Texte-Sammlung zum Geigentag von Hermann Härtel
Was ist der Geigentag?
Der Geigentag ist dem Pfeifertag des Salzkammergutes nachempfunden. Mich hat seinerzeit – als jungen Musiker, der schon in den sechziger Jahren „aufgetreten“ ist, – dieses Freigehege fasziniert. Der Geigentag beginnt mit einem Lernteil, bei dem ca. zehn Vorbilder als Geigen-Lehrer zur Verfügung stehen. Er entstand eigentlich aus dem Bedürfnis, andere Geiger kennenzulernen, und hat sich im Laufe der Zeit zu einer Börse der Tanzgeiger und Streich-Tanzmusik entwickelt (Erster Geigentag 1976).
Es stehen ein Gasthaus, Gastgarten, Tanzböden, Spielplatz, Würstelstand, Schießstand und ein Noten-Flohmarkt zur Verfügung. Als Belustigung wird eine Geige versteigert und auf eine Ehrenscheibe geschossen. Nach dem Lernteil, bei dem Geigerinnen und Geiger jeden Alters und Spielkönnens ermutigt werden, folgt in fließendem Übergang das freie Spiel der Kräfte, wobei Musikanten und Zuhörer sowie Tanzlustige (immerhin 1500 Besucher) sich selbst überlassen werden. Ohne Programmablauf und (nach mehreren solchen Geigentagen) auch ohne organisatorischen Eingriff machen sich die Anwesenden ihr Fest.
Die Veranstaltung dient mehreren Zielen:
der Begegnung zwischen Könnern und Lernenden,
der Bewährung der Musiker am Tanzboden,
der Repertoire-Erweiterung mit und ohne Noten,
der Einbindung von Musik in das gesellige Leben,
der Förderung des volkstümlichen Geigenspiels,
dem Abbau des übertriebenen Respekts vor der Geige,
der Begegnung mit anderen Musikstilen und -Gattungen.
Schließlich bietet sich die Veranstaltungsform als Alternative zur Volksmusik-Vorführung an. Musikanten lernen „sich in Szene zu setzen“, und Zuschauer wissen es zu schätzen, dass sie den Musikern „über die Schulter schauen“ können.
„Ich habe nie gedacht“, sagte mir im Vorjahr ein Geigentagbesucher, „dass ich noch einmal in meinem Leben die Geige auspacke. Meine Enkelkinder sind auch da – sie können schon den ‚Stubalmwalzer‘ mit Harmonika und Flöte. Ich bin auch sehr für das Alte“, sagte er, legte den Bogen auf die Saite und spielte „La paloma“!
Die Geige in den Koffer …
Dieses vielstimmige und musikalische Fest wurde ins Leben gerufen, um dem volkstümlichen Geigenspiel in Österreich wieder auf die Sprünge zu helfen.
Die Geige ist ja das wichtigste Volksmusikinstrument in den Alpen und schließlich gibt es eine ununterbrochene Überlieferung der traditionellen Tanzmusik auf Streich. Das Ansinnen ist gelungen, denn landauf und landab gibt es wieder gestrichene Volksmusik. Der Geigentag war über viele Jahre der Impulsgeber dazu.
Die Geige in den Koffer und den Bogen dazu. Ein Wochenende lang musizieren, singen und tanzen, sich selber in Stimmung versetzen. Das gilt für die bewährten Tanzmusikgeigerinnen und -geiger aus ganz Österreich und den Nachbarländern ebenso wie für die vielen Einsteiger. Gerade sie profitieren vom Vor- und Nachspielen und vom beglückenden Erlebnis, wenn erstmals zur eigenen Musik das Tanzbein geschwungen wird. Mit einstimmen in das große Fest auf der Wiese über Graz…
Auf zum Geigentag…
Nachdem ich meinen Citroen in der mit „P“ gekennzeichneten Wiese geparkt hatte, lenkte ich meine Schritte dem Waldsaum zu, machte aber auf halber Strecke kehrt, um meinen Geigenkasten vom Rücksitz zu nehmen.
Derart sichtbar als Musiker ausgerüstet, erreichte ich den angepeilten Platz, fernab vom Festgeschehen mit Blick auf das Grazer Häusermeer. Hier verfiel ich in Gedanken an die leidigen Ab- und Aufstriche meiner Kinderzeit, an die schlürfenden Schritte meines Violinlehrers, dessen Namen mir entfallen ist. Eingeprägt hat sich hingegen der Autor meines gehassten Etüdenheftes: Čevčik. Das Geigenspiel – mit viel Liebe begonnen, endete mit verblassten Erinnerungen und verstaubtem Instrument. Der Kasten aber ließ sich öffnen, die kleinen Hebelverschlüsse schob ich aus den Messingösen. Der Inhalt bot – nach jahrzehntelangem Schlummern, einen eher traurigen Anblick.
Just in dem Moment aber klangen vom Tanzboden die ersten temperamentvollen Töne zu mir herauf und versetzten mich in Sehnsucht und Wehmut, ob der verlorenen Spannung der Saiten und der Bogenhaare. Als ich meinen Aussichtspunkt – den scheppernden Koffer unterm Arm – verließ, hat sich etwas in mir aufgebaut: Von der Wiedergutmachung an meinem lange weggelegten Instrument, bis zum festen Entschluss, beim nächsten Geigentag den zweiten Frühling meiner Geigerlaufbahn einzuleiten…
Auf zum Geigentag auf der Leber
Am Nachmittag verzogen sich die Wolken und ein blauer Himmel überdachte das Szenario, einem auf Heiterkeit dekorierten Konzerthaus ähnlich.
Während vereinzelt Geigenstimmen an den Waldrand drangen wanderte mein Blick in das nicht allzu ferne Graz mit seinen Dächern und Türmen. Meine Geige hatte ich dabei und legte eine Gedenkminute ein: Ist lange her, seit ich sie gestrichen, wie hieszlig; doch das Etüdenheft – Zserny? Ja, Zserny – und dann kam es zur Geigenweglegung.
Schluss mit der Geigenweglegung
Und da liegt sie nun das alte Instrument, die Geheimnisse der zwei Unterrichtsjahre auf dem Geigenbuckel. Die Saiten sind noch gespannt, der Bogen zersaust. Der Geigentag ist auch für mich, so denke ich mir. Und während aus der Tanzhütte die ersten Jubelschreie dringen, setze ich den Bogen an – zu einem späten Einstieg in die Streicherwelt.
Trotz Wolkenbruch kein Stimmungsabbruch
Von den ersten zaghaften Tönen zum großen orchestralen Lärmpegel. Von der blauhimmeligen Heiterkeit zur gewalttätigen Gewitterfront. Von der verliebten Kontaktnahme im Augenwinkel bis zur gestampften Leidenschaft am Tanzboden. Das Fest flog unentwegt dem Finale zu und führte letztlich hin zum bitteren Ende, das im Abgesang noch einige verschliffene Geigentöne ausatmete.
Wir alle erlebten mit dem Geigentag wieder eine außergewöhnliche Veranstaltung. Längst ist sie über die Landes- und Bundesgrenzen hinaus zum Lehrstück für Veranstaltungskultur geworden und Stattegg hat das Privileg, der Austragungsort dieses schönen Festes zu sein. Wer immer an der Infrastruktur für die zweitägige Lustbarkeit mit gearbeitet, den Boden für Geselligkeit und musikalische Begegnung gelegt hat: Alle gehören vor den Vorhang!
Es sei hier allen herzlich gedankt: Der Gemeinde mit ihrer Feuerwehr, den Volkstänzern und den Schuhplattlern, Lore Galler und der Familie Vorraber für die Messgestaltung, ebenso aber auch den Wirtsleuten und vielen, vielen Helfern.
Der Geigentag ist und bleibt eine Gemeinschaftsleistung bei der selbst der kleinste Besucher noch einen Anteil am Erfolg hat. Das Steirische Volksliedwerk – als Motor und Tabubrecher – hat seit Jahrzehnten den Weg für diese Form der hausgemachten Stimmung geebnet und sieht den größten Erfolg in der Altersstruktur dieser Veranstaltung. Heute wird der Geigentag hauptsächlich von den jungen Musikantinnen und Musikanten dominiert.
Dass die Gäste auch aus dem Ausland alle Jahre zu uns pilgern, liegt aber vor allem an der Sympathie, die der Geigentag ausstrahlt. Sie geht von der hier lebenden Bevölkerung aus, die den Geigentag längst zu ihrem Geigentag gemacht hat. Da kann man nur gratulieren und dem Volksliedwerk zustimmen:
Wir sind alle als Musikerinnen und Musiker geboren, um letztlich im Himmelsorchester mit einzustimmen. Daher ist es auch recht und billig ganz oben auf der Leber, dort wo die Wiesenblumen in den Himmel reichen, alle zwei Jahre eine kleine Probe abzuhalten…
Musik gehört auf die Wiese: Der Steirische Geigentag
Diese Initiative knüpft an die ununterbrochene Tradition des volkstümlichen Geigenspiels an. Die Bedeutung der Violine als Volksmusikinstrument stand stets im Schatten der musikalischen Hochkunst. Inzwischen sind wieder junge Tanzgeiger am Werk, die der handwerklichen Tradition am Tanzboden dienen. Der Geigentag war und ist dazu das musikpädagogische Konzept und Umschlagplatz für Melodien, letztlich aber auch ein Beispiel für Veranstaltungskultur.
Der Steirische Geigentag
Ein Freiluft-Geigentag auf der Leber. Ja, mit Leber ist einmal nicht das menschliche Organ gemeint, die Leber ist nämlich ein Sattel in Stattegg bei Graz und noch dazu ein begehrtes Ausflugsziel. Alle zwei Jahre treffen sich dort unter freiem Himmel die Tanzgeiger aus ganz Europa. Die Idee geht auf das Jahr 1976 zurück. Damals erfand man mit dem Geigentag eine Begegnungsstrategie fernab von Bildungshausenge. Einfacher gesagt: Es wurde versucht, die Vermittlung von Melodien, die Förderung des traditionellen Geigenspiels der emotionale Ebene anzuvertrauen.
Inzwischen ist der Geigentag mehrfach zur Besonderheit geraten. An erster Stelle steht der ungewöhnliche Lernprozess, die Weitergabe von Melodien und Erfahrungen – meist ohne Noten. Zum zweiten: Viele Menschen haben Geige gelernt und die Hürde zum musikalischen Spaß nie genommen. Sie holen nun das Instrument vom Schrank und sind mitten dabei, mitgerissen von hundertfachen Geigenstimmen. Viele Violinlehrerinnen und Violinlehrer bringen ihre Schützlinge zu dieser Veranstaltung, weil das Geigenspiel anschließend wieder mit viel mehr Spaß weitergeht. Und, es geht um Veranstaltungskultur. Hier wird ein Feld bereitet, auf dem es sich besser leben lässt. Ohne Verstärker und Sprechanlage auszukommen ist Reinkultur, und das bei der enormen Veranstaltungsgröße: Samstags etwa 2000 Menschen, die entweder spielen, zuhören oder tanzen. Am Sonntag gipfelt die Geigerei in einen Streicher-Frühschoppen samt Geigenversteigerung.
Der Steirische Geigentag hat inzwischen auch einen touristischen Stellenwert. Stattegg, aber auch die umliegenden Gemeinden beherbergen die Gäste. Vor allem über die Volksliedwerk-Homepage wurde ein weltweites Interesse entfacht: Seien es nun die Musikanten aus Venezuela oder Südafrika, aus Liechtenstein, der Schweiz oder aus Norwegen. Sie alle empfinden diese gelungene Symbiose zwischen dem Publikum und den Musikanten – im Vergleich zu anderen international beschickten Folkloretreffen – auch als besonderes Beispiel der Begegnung von Tradition und Innovation, einer Verschmelzung von Musikgattungen und Musikstilen.
Wo gibt’s denn sowas: 12 Leihinstrumente sind ununterbrochen besetzt, um auch jenen zum ersten Aufstrich zu verhelfen, die bislang gemeint haben, sie seien unmusikalisch. Die Spannung und Harmonie zwischen Dilettantismus und Virtuosität machen den Geigentag aus. Wer das Steirische Volksliedwerk beim Amt der Steiermärkischen Landesregierung kennt, weiß aber, dass der Erfolg auch der Verehelichung zwischen professionellem Management und der Volksliedwerk-Philosophie zuzuschreiben ist.
Der alte Geiger Wenzl
Allzu rasch hatte der Wind die Wolken nähergeschoben, so dass Notenblätter und Würstl-Servietten plötzlich gemeinsame Lufttänze vollführten.
Schon polterte der Donner, und Augenblicke später vertrieben die ersten schweren Tropfen die vergnügte Zuschauermenge, die Gäste im Garten, die Kinder vom Spielplatz. Die Geiger brachten ihre Instrumente ins Trockene, und während nun das Gewitter tobte, verwandelte sich die schützende Gaststube in einen Hexenkessel. Die Musikanten ließen die Instrumente erzittern, ein Schwall von gemischten Tönen ergoss sich auf die dicht nebeneinander verkeilten Zuhörer, mittendrinnen die Kellnerin, die lachend eine Portion Pommes an diejenigen verteilte, von denen sie unverrückbar eingeschlossen wurde.
Der alte Geiger-Wenzel genoss die unverhoffte Enge und Nähe zu ihr und schloss die Augen. Noch heute erzählt er von diesem Ohrenschmaus, vom Zusammenspiel zwischen den Musikanten und dem Himmelsgrollen. Er war so versunken in diesen zugleich irdischen und göttlichen Orchesterklang, dass die Pommes weggeputzt waren, noch bevor er zugreifen konnte.
Die Kastengeige
Ein Geigenkasten ja, aber eine Kastengeige? Nie davon gehört? Ist sie etwa ein altertümliches, viereckiges Instrument? Mitnichten!
Während ein Geigenkasten zur Aufbewahrung und für den Transport der Geige vorgesehen ist, beschreibt der Ausdruck „Kastengeige“ den monate- und jahrelangen, ruhenden Zustand des Instruments. Es sind bedauernswerte Geigen, die – etwa nach dem Abbruch des Violinunterrichts – einfach auf einen Kleiderkasten oder Wohnzimmerschrank gelegt werden, um für unbestimmte Zeit zu schlummern. Einfach weggelegt – eine Geigenweglegung also!
Der Zustand verlangt nach Abhilfe, er kann – das weiß ich aus Erfahrung – sehr schnell geändert werden. Zumindest alle zwei Jahre, dann nämlich, wenn in Graz – Stattegg der Geigentag ruft. Da sind auch lange weggelegte Geigen willkommen und noch mehr deren Streicherinnen und Streicher. Plötzlich legen hunderte große und kleine Geiger alle Hemmungen ab, ergreifen die Bögen und damit die musikalische Initiative. Das Steirische Volksliedwerk landet mit dieser Veranstaltung einen Volltreffer und zieht jedes Mal etwa 1.500 bis 2000 Menschen an, die sich dem lustvollen Spiel unter freiem Himmel hingeben. Zuweilen aber verändert der Geigentag sogar die Beziehung zwischen den Geigern und ihren Geigen. Sie versöhnen sich und finden ihren Platz im großen Feld zwischen Stümpern und Virtuosen. Es ist durchaus ein schöner Erfolg, wenn die Kastengeige sich ihren neuen Platz im Leben findet, noch dazu griffbereit…
Der Zaungast
Er war nur Zaungast – so schien es – und stützte sich mit beiden Händen auf die hölzerne Gartenbank. Sein grauweißer Schnauzer glänzte im Sonnenlicht, und auf der Stirn standen Schweißperlen.
Die Augen fixierten die vielen jungen Leute, die ihre Geigen und sich selber in Schwingung versetzten. Alle Sinne waren gefordert: Die Augen erfassten das bunte fröhliche Bild, den Glanz der Instrumente und die überschäumenden Bierkrügel. Die Nase registrierte eine Prise Kolophonium mit dem Unterton eines in der Nähe gerade servierten Backhendls. Und die Ohren? Sie spitzten sich, ob des köstlich-beschwingten Gezeters der kleinen und großen Geigen, die unentwegt über die Saiten hackten, schliffen, bockten und pfiffen.
Die jungen Mädchen und Burschen stampften mit den Füßen und wirbelten Staub auf: Das war ihm zu viel. Er wutzelte seinen Schnurrbart, gab sich einen Ruck, löste sich aus dem Sog des klingenden Wirbelwindes, strackste mit den fast 80jährigen Beinen zu seinem Opel Kadett und holte nun auch seine Geige aus dem Kofferraum.
Unterm Strich…
Unterm Strich ist dasselbe gemeint: Die Violine steht für die Hochkunst der Musik, und in der Volksmusik wird immer von der „Geig’n“ gesprochen.
Die Streichmusik klafft nur scheinbar so stark auseinander. Im Konzertsaal wird dem Instrument vor einem verzauberten Publikum das Höchste entlockt. Im Landgasthof dient der Geig’nstrich ganz dem Wirbel auf dem Tanzboden. Es sind verschiedene Welten – und doch wieder nicht, denn fast alle großen Komponisten haben die ländlichen Geigentöne zu schätzen gewusst und in so manchem ihrer Werke verewigt.
Ist es Respektlosigkeit, selbst Hand anzulegen und zur Geige zu greifen? Der Steirische Geigentag, ein im Zweijahresrhythmus durchgeführtes „Fest der Musikanten“, beweist das Gegenteil: Die Geige ist auch ein Volksmusikinstrument. Es ist geradezu dafür erschaffen, die beliebten Volksmelodien Strich für Strich ans Ohr zu liefern, oder aber im mörderischen Staccato dem Tanzbodengetrampel zu dienen. Zuhören oder mitmachen – das ist die Frage. Schon entschieden?
Eine musikalische Reise
Just in dem Augenblick, als sich die adrette Kellnerin mit einer Fuhr Wienerschnitzel bis zu uns durchgekämpft hatte, verlagerte sich das hundertfache Geigengezirpe in unsere Ecke des Gastgartens.
So musikbedrängt begannen wir mit dem Essen, wobei die Unzahl an gefiedelten Geigen und Bassgeigen willkommenen Schatten spendeten. Während nun zu einem Crescendo ausgeholt wurde, die Bögen in die Saiten hackten und rauhe Stimmen etwas von einem „Maderl aus der Provinz“ sangen, fiel mir, angeregt von einem durchaus im Rhythmus empfangenen Rempler, das Besteck aus den Händen.
Zugleich hat ein etwa fünfjähriger Tischnachbar den Ketchup-Behälter mit übermäßiger Kraft gedrückt, sodass plötzlich ein ansehnlicher Patzen davon auf dem zwischen uns beiden hin- und herfahrenden Bassgeigenbogen landete und so in den Genuss einer musikalischen Reise kam…
Schau, Papa…
Und als wir den Parkplatz verlassen hatten, trug uns der Wind die ersten Töne zu. Am Rande einer duftenden Wiese stiegen wir höher hinauf und gelangten, während die Musik die Oberhand über das Bienen-Gesummse gewann, auf eine Anhöhe.
Von rundum hörten wir nun das Singen und Klingen. Plötzlich stießen wir auf eine kleine Gruppe von Geigenspielern, die, im Grase sitzend und umworben von einem bunten Schmetterling, immer wieder ein und dieselbe Melodie aus der Geige eines älteren Musikanten in die eigenen Instrumente übernahmen.
„Schau, Papa“, meinte mein Bub, für den ich einen kleinen Geigenkoffer trug und dem ich nach dem ersten Violine-Lehrjahr beim Geigentag die Tanzmusik schmackhaft machen wollte, „schau, Papa – beim Geigenspiel kann man auch sitzen …“
Ein Vierzeiler Leitartikel zum Geigentag
Gute Unterhaltung! Welch ein Wunsch – so leicht kommt er über die Lippen und wie schwierig ist er zu erfüllen. „Gute Unterhaltung“ als allerletztes Wort einer festlichen Begrüßung zum Beginn, aber auch „gute Unterhaltung“ als beiläufige Floskel und als Grußersatz, jemandem über die Distanz zugeworfen, in Ermangelung einer wortreicheren und zeitraubenden Zuwendung. „Gute Unterhaltung“ ist, so verwendet, das Zeichen flüchtiger Aufmerksamkeit und entspringt nicht unbedingt der Sorge um der anderen Wohlbefinden. So ist es ja mit vielen unseren Wortspenden: Sie sprudeln uns ziemlich unkontrolliert über die Lippen und es wäre trotzdem schade, wenn wir jede Äußerung abwägen müssten. Ehrlich gesagt: Wir wären die meiste Zeit stumm und damit auch um viele Redewendungen und Sprachgepflogenheiten ärmer. Die Verschriftlichung aber erlaubt es, dem Wortgesprudel auf die Schliche zu kommen, sich in Wortklauberei zu verlieren und das ist manchmal sehr heilsam.
Die Hauptdarsteller der Gegenwart: Wir
Es steckt aber doch hinter allem so nebenbei Hingeworfenem ein wahrer Kern von Ernsthaftigkeit, eine Portion tiefsitzender Wahrheit und ritualisierter Sittlichkeit. Sich und anderen eine „Gute Unterhaltung“ zu wünschen ist letztlich auch Ausdruck der großen Sehnsucht nach einer besonderen Form der Begegnung, nach optimaler Verteilung der Rollen, einem Verschnitt von ich und du. Es ist die große Sehnsucht, die Zeit die man gemeinsam verbringt, nicht „verpuffen“ zu lassen, sie doppelt zu erleben und letztlich noch eine Portion „draufzubekommen“, nämlich in Form der Erinnerung, als quasi prolongierte Erlebniswelt. Ja, alle reden von einer großen und auch bangen Zukunft oder einer nie wiederkommenden Vergangenheit, während wir vergessen, dass wir die Hauptdarsteller der Gegenwart stellen, unsere Chance jetzt und hier wahrzunehmen haben und dem Augenblick wahrlich die Krone aufsetzen können. Wie viel haben wir noch dazuzulernen als Veranstalter und Suchende gleichermaßen? Wie oft lassen wir als Veranstalter die Angeworbenen sprichwörtlich im Regen stehen, vernachlässigen jede Art von Kultur im Umgang mit Gefühlen und Emotionen? Wie oft begeben wir uns in der Rolle des Besuchers auf die Ebene des Konsumenten, lassen die Akteure anrennen? Mehrheitlich spenden wir halbherzig und kraftsparend Beifall, seltener wagen wir es, die Lautstärke, den Inhalt und Unkultur zu kritisieren und fast nie verlassen wir sie frühzeitig um einerseits Sinnvollerem zuzustreben und andererseits solchen Veranstaltungen den Zulauf, zumindest einer Person, zu nehmen.
Die Familie als hohe Schule der Sprachfertigkeit
Gute Unterhaltung gibt es nicht auf Bestellschein und wer meint, dass er sich dazu die Gleichgesinnten aussuchen muss, kann ebenfalls jämmerlich Schiffbruch erleiden. Gute Unterhaltung hat zu allererst mit Risikobereitschaft zu tun, mit dem neugierigen aufeinander Zugehen, dem Willen eine köstliche Verbindung einzugehen und damit die so unterschiedlichen menschlichen Beiträge augenblicklich zusammenzuschmieden. Da ist Aufnahmefähigkeit und Ausgewogenheit gefordert, die eigene Wichtigkeit mit der des anderen abzustimmen. Gute Unterhaltung ist auch das Ergebnis einer in der Familie geübten Praxis des Erzählens, des sich äußern Dürfens – mit allen Auswüchsen wie Übertreibung, Spott, Verulkung. Was für eine hohe Schule der Sprachfertigkeit und Poesie versäumen wir, wenn die Unterhaltung in der eigenen Familie nicht gepflogen, stattdessen unterbunden wird, wenn wir es verabsäumen, die familiären Feste wichtig zu nehmen. Was ist dagegen die angekündigte Gaudi mitsamt dem garantierten Schenkelklopfen?
Eine deutliche Absage an die Ausscheidungskämpfe
Der „Vierzeiler“ beschäftigt sich mit dem Steirischen Geigentag, der für viele junge Menschen zum Inbegriff der Einheit von Erleben und zugleich Erlernen geworden ist. Keine Frage, dass es dazu einer Philosophie bedarf, die in diesem Heft ausführlich beschrieben wird. Zu allererst war es aber eine Abkehr vom üblichen Veranstaltungs- und Bildungshausschema, die uns veranlasst hat, neue Wege zu gehen, die sich schließlich als die „alten“ entpuppt haben, zumindest was den Austragungsort und die Form des Festes betrifft. Das ist die eine Seite, viel wichtiger aber ist die andere: Wir trauen es jedem zu, Geige zu spielen und verabscheuen Ausscheidungskämpfe. Kein Wettbewerb also und doch eine Herausforderung an jeden, sich selbst in Szene zu setzen, sich selbst einzuklinken in ein Fest, dessen besondere Aura im Nebeneinander vieler Kontraste liegt. Sei es nun das Risiko dem Schön- und Schlechtwetter aber auch dem laienhaften und dem virtuosen Geigenspiel ausgeliefert zu sein. Es ist auch immer wieder Zuneigung und Abneigung im Spiel, eine Suche nach Geborgenheit im Gespräch, nach gleichen Gefühlen im Genießen von Musik, nach gleichen Tanzschritten und temperamentvollem Gesang; auch nach einer respektvollen und spielerischen Begegnung zwischen den Generationen und einer Suche nach optimalem Befriedigen von allzu menschlichen Gelüsten.
Die geraden anstatt die Seitenblicke….
Letztlich ist der Geigentag aber auch der Begegnung zwischen Verbindlichkeit im Bezug auf die Pflege unserer Musiktradition und der Unverbindlichkeit und Freiheit in der Ausübung von Musik gewidmet. Er ist tatsächlich ein Vorzeigemodell der Geigentag, denn es sind nicht die Seitenblicke (Bussi links, Bussi rechts) die unseren Platz am Geigentag bestimmen, sondern die geraden, die uns lehren, dass man sich an der Wirklichkeit reiben muss, um in ihrem Feuer so komplizierte Vorgänge wie das Geigenspiel unkompliziert erleben zu können. Selbst wer nicht aus seiner Haut raus kann und mit Bildungskonzepten belastet an das Geigenspiel rangeht, lernt unmittelbar und praktisch kennen, dass man im Leben auch Abstriche machen muss.